Nikolaus in Not 

 Eine Nikolausgeschichte für Erwachsene

 

Es war so ein richtiges Mistwetter, als ich einen Tag vor Nikolaus in meine Stammkneipe wehte. Schneeregen, eisige Kälte und ein extrem ekliger Wind beherrschten das Land. 

 

„Von draus‘ vom Walde komm ich her …“ polterte ich Rick, dem Kneipenwirt, entgegen, den ich nur erahnen konnte, da meine Brille beim Betreten des kuschlig warmen Pubs komplett beschlagen war. Ich tastete mich vor zum Tresen, nahm die Brille ab und konnte Rick nun direkt ins Gesicht sehen, weshalb die Fortsetzung „… ich muss euch sagen, es weihnachtet …“ unvollendet blieb. Nie zuvor hatte ich Rick besorgt gesehen. Meinen fragenden Blick erwiderte er mit einem schiefgelegten Kopf, der auf den Mann zeigte, der neben mir am Tresen saß. Ich setzte die Brille wieder auf und sah nun klar. Es war der Nikolaus. 

 

„Hohoho!“ ignorierte ich Ricks subtile Warnung und den jämmerlichen Anblick, den der Mann im roten Anzug bot und fuhr stattdessen sogar noch fort: „Du hier, heute Abend? Müsstest du nicht unterwegs sein?“ 

Rick schüttelte alarmierend den Kopf und zog sich dezent zurück, obwohl ich noch gar keine Gelegenheit gehabt hatte, etwas zu bestellen. 

Ich setzte mich und stupste den Nikolaus versöhnlich mit meinem Ellenbogen an. 

 

„Hab‘ ich was Falsches gesagt, Kumpel? Laut meinem Adventskalender ist morgen das sechste Türchen dran. Und ist am 6. Dezember nicht …“ 

Endlich reagierte er. „Auch Richtiges kann im falschen Moment falsch sein!“ Sein herrlicher Bass ließ seinen gewaltigen Bart erzittern. 

Rick unterstrich das Gesagte mit einer bis zum Anschlag hochgezogenen Augenbraue. Ich wäre im Traum nicht darauf gekommen, dass er so dicke mit dem Nikolaus ist. Eigentlich hatte er etwas gegen Leute, die einem sagen, dass man brav sein soll. 

 

„Aber ganz unbegründet ist meine Frage nicht, oder?“, bohrte ich weiter. „Bist du im Ruhestand und wenn ja: gibt es einen Nachfolger?“ „Arbeitslos!“ kam es maulfaul von ihm und er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas. 

„Wie jetzt? Und was ist mit Apfel, Nuss und Mandelkern?“ 

„Daraus wurde Handy, Tablet und Computerspiel.“ 

„Ach so, und sowas führst du nicht?“ 

Ich wollte gerade zu einem Schenkelklopfer ansetzen, doch Ricks Blick fror den Anfang meiner belustigten Bewegung ein. 

 

„Apfel, Nuss und Mandelkern. So steht es in meinem Vertrag. Gegen Schokolade sagt ja auch keiner was. Aber darüber hinaus bekomme ich Ärger mit dem Weihnachtskartellamt und dem Weihnachtsmann hochselbst.“ 

„Verstehe. Du wurdest sozusagen wegmaterialisiert“. 

„Wegmaterialisiert …“, wiederholte er mit einem traurigen Lächeln, „das hat Potenzial für das Unwort des Jahres! Aber ja, wenn du so willst. Niemand braucht einen alten Mann, der Süßes in Stiefel stopft. In den meisten Häusern liegt so viel von dem Zeug rum, dass ich mir oft wie auf einer Süßigkeiten-Messe vorkomme. Die lachen sich tot, wenn sie ihre Stiefel auskippen und da rollen Mandarinen und Walnüsse heraus. Und mittlerweile stellt auch kaum noch jemand einen Stiefel auf. 

 

„Also, bei uns war der Nikolaustag früher ein großer Freudentag!“ erinnerte ich mich und er sah mich zum ersten Mal interessiert an, weshalb ich fortfuhr. „Am Abend vorher wienerten meine Geschwister und ich einen unserer Stiefel, bis er aussah wie neu. Schon vor Tagen hatten wir ein Bild gemalt, das nun gerollt und in den Stiefel gesteckt wurde. Dann stellten wir natürlich Kekse und Milch für dein Eselchen vor die Tür und gingen extra früh ins Bett in der Hoffnung, dass dann auch extra schnell der Morgen kommen würde.“ 

Der Nikolaus sah versonnen in die Ferne, und nickte andächtig. „Jaaaa, die guten alten Zeiten.“ 

„Am nächsten Morgen rannten wir förmlich zu unseren Stiefeln, schleppten sie zum Küchentisch und packten selig Stück für Stück aus. Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Und das, alter Knabe, hatte ich dir zu verdanken. Sag, darf ich dir einen Glühwein spendieren?“ 

Er antwortete, indem er den Rest aus seinem Bierhumpen hinunterstürzte. 

 

Wir schwiegen eine Weile, während wir auf den Glühwein warteten. 

„Das, was du da beschreibst, ist sehr selten geworden“, fuhr er aus seinen Gedanken auf. „Im letzten Jahr lag auf einer Fußmatte ein Zettel auf dem stand „fuck you, nikolaus!“. Und Nikolaus war kleingeschrieben. 

„Oh!“ 

Ich hätte gerne gelacht, aber Rick drohte mit einem Gegenstand in meine Richtung, der wie die Rute aussah. Langsam wurde Rick mir unheimlich. 

Der Nikolaus schien das zu spüren, griff in seine Manteltasche und warf eine Hand voll glitzernden Flitters über mich, ohne mich dabei anzusehen. Gleich fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Glücklich grinste ich ihn an und dabei hatte ich noch nicht einmal an meinem Glühwein genippt. 

Als läse ich aus einem Manuskript vor, fuhr ich fort: 

„Also, fassen wir doch mal zusammen. 1. Deine Aufgaben sind klar umschrieben. 2. Deinen Esel gegen einen von Rentieren gezogenen Schlitten eintauschen willst und darfst du nicht. 3. Deine Gaben kommen bei deiner aktuellen Klientel nicht mehr an. Nun kannst du aufgeben und dich hier mit Bier zuschütten oder du kannst dich der Zeit anpassen. 

Endlich mischte Rick sich ein. „Aber der Nikolaus hat dir doch schon erklärt …“ 

„Lass ihn nur reden, Ruprecht!“ unterbrach der Nikolaus ihn. 

Ruprecht? Ich hörte wohl nicht recht! Fragend sah ich Rick an. Doch der Nikolaus griff abermals in seine Tasche und Rick und ich bekamen jeder eine Ladung Glitterflitter ab. 

Ohne ein weiteres Wort des Streits stellte Rick uns freundlich lächelnd eine Schüssel Nüsse hin und ich steckte dankbar einen Schein in die Trinkgeldkasse auf dem Tresen. 

Als wäre nichts passiert fuhr ich fort. 

„Es ist doch ganz einfach. Deine Aufgabe ist es, Freude zu verbreiten. Ob du das mit etwas tust, was den Leuten fehlt oder mit etwas, was sie bereits haben, ist doch total egal …!“ 

Rick und der Nikolaus sahen erst einander an und dann mich. Sie schienen zu verstehen. Rick nahm sich auch einen Glühwein und wir stießen mit einer gehörigen Portion Enthusiasmus an. 

Es wurde eine lange Nacht, über die ich selbstredend nichts verraten darf. 

 

6. Dezember irgendwo im Nirgendwo: 

Jo tritt vor die Lehmhütte. Da steht ein riesiger Schuh mit einem seltsam langen Schaft. Vorsichtig blickt er hinein. Da steckt eine Menge aufregender Dinge in dem fremden Schuh. Es duftet nach allem möglichen. Seine Mutter tritt hinzu, schlägt aufgeregt die Hände über dem Kopf zusammen und ruft das ganze Dorf zusammen. Jeder bekommt etwas ab. Alle glauben an ein Wunder. Der himmlische Geschmack der Gaben verteilt sich über die Zungen in die Herzen. Ein ganzes Dorf ist glücklich. 

 

6. Dezember bei den Ärmsten der Armen mitten im Überfluss: 

Josi verlässt die Wohnung, um für ihre Mutter und die kleinen Geschwister Frühstück zu erbetteln oder zu stehlen. Sie stolpert über einen riesigen Stiefel. Als er umfällt, rollen die herrlichsten Sachen heraus. Schnell räumt sie alles wieder ein, schleppt den Stiefel in die Wohnung und ruft: „Er war da! Er war wirklich da!“ 

 

6. Dezember in einem von hunderttausend Häusern: 

Jona sieht, während er das Haus verlassen will, auf sein Handy. Vor der Tür tritt er gegen einen Stiefel. „Welcher Depp …“, brummelt er vor sich hin und bückt sich. Da liegt ein Zettel. Darauf steht: Alles Liebe vom Nikolaus. „Ach, stimmt, heute ist ja Nikolaus!“ Jona sieht, dass im Innern des Stiefels etwas glitzert. Er greift in den Nikolausflitter, lässt ihn sich durch die Finger rieseln und denkt an früher. Lächelnd stellt er den Stiefel beiseite. Er nimmt sein Handy und schreibt seinen Eltern: „Hey Leute, lasst uns heute Abend zusammen Plätzchen backen.“ 

 

6. Dezember in einem anderen von hunderttausend Häusern: 

Joni wacht auf und fühlt sich seit Langem mal wieder glücklich und geborgen. Eigentlich ist sie schon viel zu alt, um sich über den Nikolaustag zu freuen. Sie steht viel zu früh auf und stapft in den Flur, der nur leicht von einer Lichterkette erleuchtet wird. Auf der Fußmatte unter dem Rundbogen, den ihre Mutter in der Vorweihnachtszeit immer mit Tannenzweigen schmückt, steht ihr Stiefel. Andächtig bewundert sie, wie sich das Licht der Lichterkette in dem Glitzerpapier eines Marzipanbrotes spiegelt und einen warmen Lichtschein streut. „Was gibt es Schöneres?“, flüstert sie, nimmt eine Apfelsine aus dem Stiefel, schnuppert daran und legt sie sich an die Wange. 

 

6. Dezember in einem Pub in einer x-beliebigen Stadt: 

Der Nikolaus, der Barkeeper und ein Gast mit nur einem Stiefel an, sitzen gut gelaunt am Tresen und naschen Apfelspalten, Nüsse und Mandelkerne …

Die Nikolausgeschichte zum Weiterleiten als PDF findest Du hier ...